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Eignung für den Beruf des Beamten und Schwerbehinderung


Der VGH Baden-Württemberg verknüpft Beamtenrecht und Sozialrecht - Beschluss vom 20.02.20, 4 S 3299 / 19

Zu der Frage, ob und in wie weit bei einer anerkannten Schwerbehinderung die Anforderungen zu senken sind, die sonst an die gesundheitliche Eignung von Beamten gestellt werden, gibt es verschiedene Auffassungen.
Der Beschluss des VGH Baden-Württemberg vom 20.02.20 scheint uns sehr beachtenswert, da er in einer überzeugenden Art und Weise das Beamtenrecht und das Sozialrecht miteinander verknüpft und dabei beamtenrechtliche Grundsätze zeitgemäß interpretiert. Konkret geht es um eine Beförderung trotz nicht gegebener Nachtdiensttauglichkeit.

VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 20.02.20, 4 S 3299 / 19


Leitsatz
Bei schwerbehinderten und ihnen gemäß § 2 Abs. 3 SGB IX gleichgestellten Menschen hindert im Einzelfall eine behinderungsbedingt fehlende Nachtdiensttauglichkeit nicht die Beförderung im Justizvollzugsdienst.

Tenor
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 26.11.19 - 14 K 3057/19 - wird zurückgewiesen.

Gründe
1
Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg.
I.
2
Mit seiner Beschwerde wendet sich der Antragsgegner gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts, das bezüglich der 1989 geborenen Antragstellerin teilabgebrochene Beförderungsverfahren von A7 nach A8 fortsetzen zu müssen.
Der Antragsgegner ist der Auffassung, die Antragstellerin könne nicht zur Hauptsekretärin im Justizvollzugsdienst befördert werden, weil der Amtsarzt ihr zur Erhaltung ihrer Dienstfähigkeit seit dem 21.03.19 untersagt hat, Nachtdienste zu leisten. Laut Auswahlvermerk vom 04.04.19 sei sie deshalb „im Grunde als dienstunfähig“ anzusehen, weswegen ihr trotz des erreichten Ranges 4 „die eigentlich verdiente Beförderung versagt bleiben“ müsse und die ursprünglich vorgesehene Vergabe der zur Verfügung stehenden vierten Stelle in dieser Beförderungsrunde ganz zu unterbleiben habe. Die Antragstellerin leidet unter Multiple Sklerose, ist medikamentös jedoch gut versorgt, sodass sie ihren vollen Dienst im Wesentlichen ohne Fehlzeiten im Schicht- und Wechseldienst leistet. Zu Nachtdiensten wird sie von dem Antragsgegner seit dem amtsärztlichen Attest jedoch nicht mehr eingeteilt. Zwischenzeitlich hat sie im Selbstengagement eine Sportübungsleiterlizenz erworben und tut, laut Amtsarzt, auch sonst „in eigener Mitverantwortung alles für den Erhalt von Gesundheit und Arbeitsfähigkeit“. Aufgrund der Erkrankung wurde bei ihr mit Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales vom 02.03.18 ein GdB von 30 festgestellt. Durch Bescheid der Bundesagentur für Arbeit vom 11.12.19 wurde sie gemäß § 2 Abs. 3 SGB IX einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt, damit sie infolge der Behinderung „in ihrer Wettbewerbsfähigkeit gegenüber nichtbehinderten Menschen nicht benachteiligt“ wird.

II.
3
Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, das nach der Ausschreibung vom 04.03.19 teilabgebrochene verwaltungsinterne Stellenbesetzungsverfahren hinsichtlich der Besetzung der vierten A8-Stelle zugunsten der Antragstellerin fortzusetzen. Denn gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO ist im Lichte des Gebotes von effektivem Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG gegen einen unberechtigten Abbruch eines Auswahlverfahrens bei Fortsetzungsantrag binnen Monatsfrist eine einstweilige Anordnung zu erlassen, um das Begehren auf zeitnahe Verfahrensfortsetzung durchzusetzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 03.12.14 - 2 A 3.13 -, Juris Rn. 22). Die Antragstellerin hat fristgerecht die Fortsetzung des Auswahlverfahrens beantragt und sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Aus der behinderungsbedingt fehlenden Nachtdienstfähigkeit folgt im vorliegenden Einzelfall keine Beförderungssperre bis zum 55. Lebensjahr, d.h. hier bis ins Jahr 2044. Da die Antragstellerin durch bestandskräftigen Bescheid der Bundesagentur für Arbeit einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt wurde, kann sie sich gegenüber dem Antragsgegner auf den hieraus folgenden verfassungsrechtlichen Diskriminierungsschutz berufen, weswegen es an einem - für den rechtmäßigen Auswahlverfahrensabbruch erforderlichen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.07.11 - 1 BvR 1616/11 -, Juris Rn. 24 m.w.N.) - sachlichen Abbruchgrund fehlt.
4
Bezüglich anerkannt schwerbehinderten Bewerbern hat der Senat bereits mit Urteil vom 24.06.19 entschieden, dass die Regelungen der Art. 33 Abs. 2 GG, § 9 BeamtStG, Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX für schwer­behinderte Bewerber um öffentliche Ämter einen individualrechtlichen Anspruch auf behinderungsgerechte Berücksichtigung begründen. Einem schwerbehinderten Bewerber darf die gesundheitliche Eignung für ein Statusamt daher nicht allein deshalb abgesprochen werden, weil er den Anforderungen der Laufbahn zum Einstellungszeitpunkt behinderungsbedingt nicht vollumfänglich entspricht (unter Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss vom 10.12.08 - 2 BvR 2571/07 -). Dies betrifft nicht allein die Verwendungsbreite, sondern gilt auch bezogen auf quantitative Leistungseinschränkungen (ausführlich: Senats­urteil vom 24.06.19 - 4 S 1716/18 -, Juris Rn. 50 ff. m.w.N.). Vergleichbare Grundsätze gelten naturgemäß auch für Beförderungen in ein höheres Statusamt.
5
Auf diese Rechtsprechung kann sich im vorliegenden Einzelfall auch die Antragstellerin berufen, seitdem sie einem schwer­behinderten Menschen gemäß § 2 Abs. 3 SGB IX gleichgestellt wurde (vgl. BVerwG, Urteil vom 25.07.13 - 2 C 12.11 -, Juris Rn. 34). Denn es wäre zynisch, müsste für eine Beförderung etwa abgewartet werden, bis sie schwer erkrankt bzw. durch weitere Schübe oder einen chronisch voranschreitenden Verlauf ihrer Erkrankung schwerbehindert wird und ein GdB von (mindestens) 50 festgestellt werden muss. Sinn und Zweck der Gleichstellung nach § 2 Abs. 3 SGB IX ist es gerade, dass Betroffene trotz behinderungsbedingter Einschränkungen schon bei einem GdB von 30 bis unter 50 einen geeigneten Arbeitsplatz erlangen oder behalten können (vgl. BeckOK Sozialrecht, 55. Ed. 12/2019, § 2 SGB IX Rn. 11 f.). Die insoweit von der Bundesagentur für Arbeit zu prüfende Kausalität zwischen Behinderung und Erforderlichkeit der Gleichstellung (BSG, Urteil vom 06.08.14 - B 11 AL 16/13 R -, Juris Rn. 22) ist hier gegeben, weil der Antragsgegner die Antragstellerin im Wesentlichen allein wegen ihrer behinderungsbedingt fehlenden Nachtdiensttauglichkeit von der Beförderung ausschließen will.
6
Mit der Übertragung des Diskriminierungsverbots auf das Dienstrecht setzt sich der Senat im Übrigen nicht in Widerspruch zu dem vom Antragsgegner zitierten Senatsbeschluss vom 15.04.11 (- 4 S 592/11 -). Denn dort ging es gerade nicht um einen schwerbehinderten Bewerber mit einem GdB von 50 oder einen gemäß § 2 Abs. 3 SGB IX diesem gleichgestellten, wie sich aus dem zugrundeliegenden Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 24.01.11 (- 3 K 2443/10 -) ergibt. Das Verwaltungsgericht argumentierte ausdrücklich damit, dass es im dortigen Fall an einer anerkannten Schwerbehinderung oder Gleichstellung fehle (UA S. 11).
7
Im vorliegenden Einzelfall ist zudem hinreichend sichergestellt, dass die Antragstellerin nach aktueller Erkenntnislage trotz ihrer gesundheitlichen Einschränkung eine ordnungsgemäße und dauerhafte Wahrnehmung der mit dem angestrebten Amt verbundenen Aufgaben im Wesentlichen gewährleisten kann (hierzu: BVerfG, Beschluss vom 10.12.08 - 2 BvR 2571/07 -, Juris Rn. 19). Zwar ist dem Antragsgegner zuzubilligen, dass für das A8-Amt einer Hauptsekretärin im Justizvollzugsdienst grundsätzlich die volle Nachtdiensttauglichkeit gegeben sein muss. Denn es ist offenkundig und bedarf keiner weiteren Begründung, dass in einer Justizvollzugsanstalt der Schicht- und Wechseldienst zwingend auch die Nachtzeiten abzudecken hat, d.h. hier Dienstpläne erforderlich sind, die einen regelmäßigen Wechsel der täglichen Arbeitszeit in wechselnden Dienstschichten vorsehen, in denen ununterbrochen, bei Tag und bei Nacht sieben Tage die Woche Dienst geleistet wird (vgl. Senatsurteil vom 19.11.19 - 4 S 533/19 -, Juris Rn. 19). Weiter hat der Antragsgegner schlüssig dargelegt, dass es in der JVA derzeit keinen nach A8 bewerteten Dienstposten gibt, der konzeptionell vom Nachtdienst ausgenommen ist, selbst wenn einige Bedienstete faktisch keinen Nachtdienst leisten. Abgesehen von ihrer behinderungsbedingt fehlenden Nachtdienst­tauglichkeit, die hier aufgrund des verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbots ausgeblendet werden muss, ist die Antragstellerin nach ihren erfreulichen Beurteilungen jedoch ausgesprochen motiviert und in der Behörde vielfältig engagiert. Ob sie weiterhin auf ihrem aktuellen A7-Dienstposten in der JVA keine Nachtdienste leisten kann oder auf einem nach A8 bewerteten Dienstposten, dürfte im konkreten Einzelfall deshalb keine entscheidungserhebliche Rolle spielen. Denn die Antragstellerin ist nach Aktenlage gut ausgebildet und - wie sie nachvollziehbar ausgeführt hat - ausgesprochen breit einsetz- und verwendbar. Abgesehen von den Nachtdiensten dürfte sie so ohne weiteres das gesamte Aufgabenspektrum einer Hauptsekretärin im Justizvollzugsdienst abdecken und ihre Dienstzeit - nach aktuellem Erkenntnisstand - weiterhin in Vollzeit in der JVA auch aus Sicht der Behördenleitung sinnvoll eingesetzt ableisten können.
8
Ergänzend ist anzumerken, dass im Falle der Antragstellerin gemäß Aktenlage keinerlei Hinweise dafür gegeben sind, dass „Gefälligkeitsatteste“ genutzt werden bzw. der Fall einer „Flucht in die Erkrankung“ vorliegen könnte (vgl. Senatsurteil vom 19.11.19 - 4 S 533/19 -, Juris Rn. 34), um sich vor dem selbstredend unattraktiven Nachtdienst „zu drücken“. Sollte ein solcher Fall gegeben sein, könnte die fehlende Nachtdienstfähigkeit einer Beförderung durchaus entgegenstehen, weil dann im Einzelfall eine ordnungsgemäße und dauerhafte Wahrnehmung der mit dem angestrebten Amt verbundenen Aufgaben auch im Übrigen nicht angenommen werden müsste. Auch für den Senat ist es offenkundig, dass die Organisation einer Justizvollzugsanstalt unbedingt darauf angewiesen ist, dass grundsätzlich alle Bediensteten gleichermaßen auch die unattraktiven Dienste ableisten, um auf diese Weise einerseits die Funktionsfähigkeit der Vollzugsanstalt sicherzustellen und andererseits durch eine als gerecht empfundene Verteilung der Belastungen eine möglichst hohe Akzeptanz der Dienstpläne und des gesamten Schichtensystems bei allen Bediensteten zu erreichen.
9
Nach alledem kann der Antragsgegner aus Sicht des Senats nunmehr sowohl die Beigeladenen als auch die Antragstellerin nach A8 befördern.
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