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Amtshaftung: Schusswaffengebrauch durch Polizei

Entscheidung des OLG Celle vom 08.02.00 - 16 U 106 / 99 -
in NJW-RR 2001, 1033 ff.


Mit Fragen der Amtshaftung und des Notwehrrechts befasst sich eine Entscheidung des OLG Celle die hier nicht wörtlich wiedergegeben wird.

Fragestellungen:

Welches ist die rechtliche Bedeutung von Vorschriften zur Eigensicherung von Polizeibeamten beim Gefangenentransport? Enthalten sie Amtspflichten, die den Polizeibeamten gegenüber der transportierten Person obliegen?

Steht einem Polizeibeamten bei der Ausübung seines Dienstes das Notwehr- bzw. Nothilferecht uneingeschränkt zu?

Kann das durch Notwehr gerechtfertigte Verhalten eines Polizeibeamten wegen Verletzung der vom allgemeinen Notwehrrecht abweichenden Regelungen über den Schusswaffengebrauch als rechtswidrige Amtspflichtverletzung oder rechtswidrige Maßnahme der Polizei eingestuft werden?


Sachverhalt:

S. fährt nachts alkoholisiert mit einem Kfz. Polizeibeamte halten ihn an. Da er einen Atemalkoholtest ablehnt, wollen die Beamten ihn zur Dienststelle bringen. Während der Fahrt im Streifenwagen - Fahrer ist der Polizeibeamte K, Beifahrer vorne rechts sein Kollege H - ereignet sich, was der Fahrer, wie folgt schildert:

"Plötzlich spürte ich links an meinem Hals ein Messer. Mit der linken Hand griff ich dort hin und versuchte, die Hand mit dem Messer von meinem Hals wegzudrehen. Dabei verletzte ich mich leicht an der linken Hand. Laut sagte ich: "Horst-Harald, ich habe ein Messer am Hals!". Der drehte sich sofort nach hinten. Ich selbst versuchte, mit der linken Hand den linken Arm und das Messer des S von meinem Hals wegzudrehen, und trat gleichzeitig auf die Bremse. Als der Wagen nur noch sehr langsam rollte und fast zum Stillstand gekommen war, nahm ich meine rechte Hand vom Lenkrad und versuchte nun, mit beiden Händen die Hand mit dem Messer von meinem Hals abzuwehren. H hatte zu diesem Zeitpunkt bereits seine Pistole in der Hand und sagte laut: "Messer weg oder ich schieße!". Der S reagierte darauf überhaupt nicht, jedenfalls merkte ich nichts davon.
H wiederholte seine Aufforderung: "Messer weg oder ich schieße!". Inzwischen war das Fahrzeug zum Stehen gekommen und ich versuchte immer noch, die Hand mit dem Messer abzuwehren. Da fiel der Schuss."

Durch den Schuss wird S tödlich verletzt. Er verstirbt im Krankenhaus. Seine Krankenkasse verlangt im Wege der Amtshaftungsklage ohne Erfolg Ersatz der ihr entstandenen Aufwendungen.


Aus den Entscheidungsgründen des Gerichts:

Das Gericht prüft die Amtshaftung nach § 839 BGB, Art. 34 GG und mögliche Verstöße gegen die Vorschriften des "Leitfadens für die Eigensicherung im Polizeidienst im Gefangenentransport".

1.
Das Gericht führt u. a. aus, die Bestimmungen des Leitfadens, die für Polizeibeamte in Niedersachsen verbindlich sind, beinhalteten keine Amtspflichten der Polizeibeamten gegenüber dem Getöteten als "Drittem" i. S. des § 839 I BGB.

"Die Bestimmungen des Leitfadens dienen dem Schutz der Beamten vor Übergriffen durch die zu transportierende Person. Zwar mag im Einzelfall - wenn bei der betroffenen Person z. B. Selbstmordgefahr besteht oder diese aus bestimmten Gründen nicht in der Lage ist, selbstverantwortlich zu handeln, und deshalb auch die Gefahr besteht, dass die Person sich selbst verletzen wird - eine Schutzwirkung dieser Bestimmungen zu Gunsten der zu transportierenden Person in Betracht kommen. Der Leitfaden ist aber nicht dazu geschaffen, den Täter davor zu bewahren, dass er bei einem von ihm durchgeführten rechtswidrigen Angriff auf Polizeibeamte durch Verteidigungsmaßnahmen der Beamten verletzt wird."

2.
Den Schusswaffengebrauch bewertet das Gericht wie folgt:

Die Verletzung und letztlich Tötung des S sei durch Nothilfe nach § 227 BGB (§ 32 StGB) gerechtfertigt.
S habe den Polizeibeamten K mit einem Messer bedroht, um ihn zum Unterlassen von Strafverfolgungsmaßnahmen zu veranlassen. Damit habe ein rechtswidriger Angriff vorgelegen. Der Angriff sei noch nicht endgültig abgewehrt und somit noch gegenwärtig gewesen.

Der Einsatz des Schusswaffe durch den Beamten H diente der Verteidigung seines Kollegen; die Verteidigung war auch "erforderlich".
Der Rahmen der erforderlichen Verteidigung wird durch die gesamten Umstände bestimmt, unter welchen Angriff und Abwehr sich abspielen, insbesondere durch Stärke und Gefährlichkeit des Angriffs und die Verteidigungsmöglichkeiten des Angegriffenen. Hierbei ist zwar das am wenigsten schädigende und gefährliche Abwehrmittel grundsätzlich das allein zulässige; doch darf nach der ständigen Rechtsprechung des BGH dasjenige Abwehrmittel eingesetzt werden, das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten lässt; wer Notwehr oder Nothilfe leistet, ist nicht genötigt, auf die Anwendung weniger gefährlicher Verteidigungsmittel zurückzugreifen, wenn deren Wirkung zweifelhaft ist. Er ist insbesondere nicht genötigt, das Risiko körperlicher Verletzungen oder Misshandlungen einzugehen.

Diese allgemeinen Grundsätze gelten - wenn auch unter Berücksichtigung der besonderen Gefährlichkeit des Abwehrmittels - auch für den Einsatz von Schusswaffen. Zwar sind dem lebensgefährlichen Einsatz einer Schusswaffe - auch wenn von einem gezielten so genannten "finalen Rettungsschuss" nicht gesprochen werden kann - Grenzen gesetzt. In der Regel ist der angegriffene Schusswaffenträger gehalten, den Gebrauch der Waffe zunächst nur anzudrohen. Reicht dies nicht aus, so muss er - wenn möglich - vor dem tödlichen Schuss einen weniger gefährlichen Waffeneinsatz versuchen. In Frage kommen ungezielte Warnschüsse oder - wenn diese nicht ausreichen - Schüsse in die Beine, um den Angreifer kampfunfähig zu machen, also solche Abwehrmittel, die einerseits für die Wirkung der Abwehr nicht zweifelhaft sind und andererseits die Intensität und Gefährlichkeit des Angriffs nicht unnötig überbieten. Letztlich kommt es immer auf die Umstände des Einzelfalles an, wobei unter Berücksichtigung der Art und Weise des Angriffes auch der lebensgefährliche Einsatz einer Schusswaffe zulässig sein kann.

Der Polizeibeamte durfte im vorliegenden Fall das Mittel anwenden, das geeignet war, umgehend und sicher den rechtswidrigen Angriff zu beenden. Insoweit war der Schuss auf den Körper des Angreifers gerechtfertigt, nachdem dieser auf zweimalige Warnung nicht reagiert hatte. Die Gefährdung des Beamten K, dem S ein Messer an den Hals gedrückt hatte, war erheblich, da angesichts der in diesem Bereich direkt unter der Haut liegenden Halsschlagader auch der Einsatz eines kleineren Messers als Schnitt- oder Stichwaffe gravierende Folgen hätte nach sich ziehen können. Ein sofortiges Handeln des Polizeibeamten H. zur Abwehr des Angriffes war deshalb erforderlich.

Ob andere Maßnahmen zur Unterbindung des Angriffes ausgereicht hätten oder nicht vielmehr zu einer weiteren Eskalation der Situation hätten beitragen können, ist zweifelhaft, lässt sich jedenfalls aus heutiger Sicht nicht feststellen.

Insoweit liegt die Beweislast bei der Klägerin. Zwar muss grundsätzlich derjenige, der ein fremdes Rechtsgut verletzt, die Voraussetzungen der Notwehr bzw. Nothilfe darlegen und beweisen. Geht es aber darum, ob im Rahmen der Erforderlichkeit ein milderes Mittel hätte angewandt werden müssen, weil es genauso gut wie das eingesetzte Mittel den Angriff beendet hätte, trägt hierfür der Angreifer die Beweislast. Nicht derjenige, der rechtswidrig angegriffen wird, sondern derjenige, der rechtswidrig angreift, muss dann darlegen und im Streitfall beweisen, dass ein gleich taugliches, ihn aber weniger beeinträchtigendes Abwehrmittel dem Angegriffenen zur Verfügung stand.

Eine Einschränkung des Notwehrrechtes der Beamten komme nicht in Betracht führt das Gericht weiter aus:

"Der etwaige Verstoß gegen den Leitfaden für die Eigensicherung führt nicht zu einer Einschränkung des Notwehrrechtes. Die von der Klägerin in diesem Zusammenhang zitierten Entscheidungen betreffen die Fälle der schuldhaften Notwehrprovokation. Insoweit entspricht es zwar allgemeiner Meinung, dass derjenige, der einen Angriff schuldhaft provoziert hat, Beschränkungen seines Notwehrrechtes unterliegt. Diese Grundsätze sind aber auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar. Dass die Beamten Maßnahmen zur gebotenen Eigensicherung unterlassen haben, stellt nicht in diesem Sinne eine "Provokation" des S zu seinem rechtswidrigen Verhalten dar.

Eine Einschränkung des Notwehrrechtes kommt auch nicht im Hinblick auf den Einwand in Betracht, die Beamten hätten den Angriff und damit die Situation schon dadurch entschärfen können, dass sie der Forderung des S, ihn nicht zur Dienststelle zu verbringen, sondern zurückzufahren, zunächst nachgegeben hätten; ...
Im Notwehrrecht gilt der Grundsatz: Das Recht muss dem Unrecht nicht weichen.
Inwieweit an diesem Grundsatz in dieser Pauschalität festzuhalten ist bzw. unter welchen Voraussetzungen - statt einer Abwehr des Angriffes - ein Ausweichen bzw. Nachgeben gegenüber dem Angreifer zumutbar ist, bedarf hier keiner Entscheidung. Denn solche Alternativen könnten in eine Abwägung nur eingestellt werden, wenn sie sicher zu einer Beendigung der Gefährdung geführt hätten.
Dies hätte aber vorausgesetzt, dass die Polizeibeamten in der konkreten Situation davon hätten ausgehen können und müssen, dass S für einen solchen Versuch der Deeskalation "ansprechbar" gewesen wäre. Dies lässt sich aber nicht feststellen.

S war erheblich alkoholisiert. Es wurde ein Wert von mindestens 1,87%o festgestellt.
Bei einer solchen Alkoholisierung besteht die Gefahr irrationalen Verhaltens bzw. kann ein vernünftiges Verhalten nicht erwartet werden. Insoweit weist auch der Leitfaden zum Umgang mit alkoholisierten Personen auf Folgendes hin: "Rechnen Sie mit starken Stimmungsschwankungen, die zu einem plötzlichen Verhaltenswandel führen können. Aus vermeintlicher Ruhe kann schlagartig aggressives Verhalten erwachsen."

Dass S zu irrationalen Verhaltensweisen geneigt hat, zeigt nicht nur sein Verhalten gegenüber dem Taxifahrer H, sondern vor allem auch sein Verhalten gegenüber den Polizeibeamten.

Bei einer solchen Situation - zumal auf Grund der Gefährdung des Beamten K ein sofortiges Eingreifen des Beamten H erforderlich war - lässt sich aber nicht feststellen, dass eine sofortige Unterbindung des Angriffes bzw. eine Beendigung der Gefahrenlage dadurch möglich gewesen wäre, dass die Beamten beruhigend auf S eingeredet bzw. ihm zunächst zum Zwecke der Deeskalation nachgegeben hätten. Gerade auch der Umstand, dass S auf die zweimalige deutliche Warnung des Schusswaffengebrauches ("Messer weg oder ich schieße") nicht reagiert hat, obwohl jeder vernünftige Mensch daraufhin das Messer hätte fallen lassen, lässt es mehr als zweifelhaft erscheinen, ob S in der damaligen Situation überhaupt "ansprechbar" gewesen ist. Dies geht letztlich aber zu Lasten der Klägerin, da sich auch insoweit nicht feststellen lässt, dass dem Beamten H ein anderes - genau so sicheres - Mittel zur Unterbindung der Gefahrenlage zur Verfügung stand."


3.
Verhältnis der Notwehrvorschriften zum Polizeirecht:

"Da das Verhalten des Beamten H nach § 227 BGB, § 32 StGB gerechtfertigt war, kommt es nicht darauf an, ob als Rechtfertigungsgrund für den letztlich tödlichen Einsatz der Schusswaffe auch die Vorschriften des Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes (NdsGefAG) eingreifen.

Genauso wenig bedarf es in diesem Zusammenhang der Entscheidung, ob die dortigen Regelungen über den unmittelbaren Zwang bzw. den Schusswaffengebrauch engere Voraussetzungen für den Einsatz der Schusswaffe aufstellen.
Denn § 71 NdsGefAG bestimmt, dass die zivil- und strafrechtlichen Wirkungen nach den Vorschriften über Notwehr und Notstand unberührt bleiben.
Dies entspricht dem Vorrang des Bundesrechtes vor dem Landesrecht, wonach im Anwendungsbereich der § 227 BGB, § 32 StGB landesrechtliche Bestimmungen über den Schusswaffengebrauch die Regelungen des bundesrechtlichen Notwehr- bzw.  Nothilferechts nicht einschränken können.

Dementsprechend steht nach überwiegender Auffassung einem Polizeibeamten bei der Ausübung seines Dienstes - jedenfalls im Falle eines rechtswidrigen Angriffes auf ihn oder einen Dritten das Notwehr- bzw. Nothilferecht uneingeschränkt zur Verfügung.

Soweit im öffentlich-rechtlichen Schrifttum teilweise die Auffassung vertreten wird, eine Überschreitung der landesrechtlichen Bestimmungen über den Schusswaffengebrauch begründe ein rechts- und amtspflichtwidriges Verwaltungshandeln gegenüber dem betroffenen Bürger, folgt dem der Senat für den Bereich der Staatshaftung nicht, jedenfalls nicht soweit es wie hier um die Abwehr eines rechtswidrigen Angriffs auf Leib und Leben eines Beamten geht.

Eine bestimmte Verteidigungshandlung kann im Verhältnis Staat (Polizeibeamter) - Bürger (Angreifer) nicht unterschiedlich als rechtmäßig oder rechtswidrig im Zivil-, Straf- und öffentlichen Recht angesehen werden. Hat der Beamte im Wege der Notwehr oder Nothilfe rechtmäßig den Angreifer verletzt, kann nicht die gleiche Handlung wegen Verstoßes gegen die vom allgemeinen Notwehrrecht abweichenden Regelungen über den Schusswaffengebrauch als rechtswidrige Amtspflichtverletzung oder als rechtswidrige Maßnahmen der Polizei eingestuft werden." Es wäre geradezu "schizoid", wenn ein einheitlicher Hoheitsakt in der rechtlichen Wertung zerrissen und eine im Rahmen der § 32 StGB, § 227 BGB rechtmäßige Verletzung des Angreifers andererseits im Rahmen des Staatshaftungsrechtes als rechtswidriges Staatshandeln eingestuft würde.
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